
In seinem Debütroman erkundet der Dresdner Autor Hans-Haiko Seifert die bewegte Geschichte von Warschau in den 1980er Jahren, jener Zeit, in der viele Deutsche, darunter auch der Protagonist Georg, in den Osten auswanderten. Georg, geboren und aufgewachsen in der DDR, beschreibt sein Heimatland als ein „schlafendes Land“ und sucht die aufregende, aber auch dramatische Realität Polens auf. Sein Studium in Warschau bringt ihn mit einer Vielzahl von interessanten Persönlichkeiten in Kontakt: Kirchenleuten, Kneipenwirten, Künstlern, einer Galeristin sowie einem Fahrradhändler und einem Professor.
Inmitten dieser Begegnungen trifft Georg auf einen rätselhaften alten Mann, der ihm aufgerollte Zeitungsränder übergibt. Diese Ränder erzählen von Mendel, einem Mann, dessen Schicksal eng mit der tragischen Geschichte der Warschauer Juden verbunden ist. Diese bildeten vor dem Zweiten Weltkrieg fast 30 Prozent der Stadtbevölkerung. Jene jüdische Gemeinschaft war während des Krieges den verheerenden Zwangsmaßnahmen der Nationalsozialisten ausgesetzt.
Das Warschauer Ghetto: Ein düsteres Kapitel
Das Warschauer Ghetto, welches 1940 errichtet wurde, diente als zentraler Umschlagplatz für Deportationen in Konzentrationslager. Am 19. April 1943 brach aus dem Ghetto der Widerstand gegen die deutsche Besatzung aus, ein bedeutendes Zeichen des Widerstands, das bis zum 8. Mai anhielt. Der Aufstand, der von der Jüdischen Kampforganisation (ŻOB) angeführt wurde, fand unter enormen Schwierigkeiten statt und endete tragischerweise mit der vollständigen Zerstörung des Ghettos. Über 56.000 Menschen starben in dieser Zeit durch Ermordung oder Deportation, und die letzten Überlebenden wurden im Laufe des Jahres 1943 vertrieben oder ermordet.
Wie die Bundeszentrale für politische Bildung berichtet, lebten im Ghetto bis zu 450.000 Menschen auf einer Fläche von nur 3 Quadratkilometern, was zu extremen Lebensbedingungen führte. Hunger und Krankheit waren an der Tagesordnung, und täglich erhielten die Bewohner kaum 184 Kalorien, während die übrige Bevölkerung Warschaus deutlich mehr bekam.
Die Bedeutung des Aufstands im Warschauer Ghetto als Symbol des jüdischen Widerstands gegen die NS-Herrschaft kann nicht überschätzt werden. Historische Ereignisse wie diese sind in Seiferts Werk deutlich verwoben. Georg findet ein Foto eines SA-Mannes, das ihn dazu anregt, über die Vergangenheit seiner eigenen Familie und die Schrecken des Holocaust nachzudenken.
Die Verbindung zur Gegenwart
Seifert verbindet in seinem Roman die historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts mit der Gegenwart und unterstreicht, dass die dunklen Kapitel der Geschichte nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Im Ghetto selbst wurde zwischen November 1940 und Juli 1942 eine schreckliche Zahl von über 80.000 Menschen durch die unmenschlichen Lebensbedingungen getötet. Die Dramatik dieser Ereignisse wird in der fiktiven Erzählung um Mendel und seine Familie lebendig.
Das Gedächtnis an diese Geschehnisse blieb in Warschau wach. 1946 wurde ein Denkmal für die Kämpfer des Aufstands errichtet. Diese Erinnerungen haben seitdem auch in der deutschen Politik Raum gefunden. So kniete Bundeskanzler Willy Brandt 1970 vor dem Denkmal nieder, um demütig um Vergebung zu bitten. Vor dem 80. Jahrestag des Aufstands wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 19. April 2023 in Warschau eine Gedenkrede halten, um die Erinnerungen an das Warschauer Ghetto und den heldenhaften Widerstand zu würdigen.
Seiferts Roman wird durch diese historischen Bezüge noch tiefgründiger und liefert nicht nur einen Einblick in die Vergangenheit, sondern auch eine Mahnung für die Gegenwart. Die Geschichte der jüdischen Bevölkerung Warschaus und der Schicksale wie das von Mendel ist untrennbar mit der Identität der Stadt verbunden und darf nicht vergessen werden.