
In einer aktuellen Äußerung hat Wladimir Putin einen differenzierten Blick auf die deutsche Geschichte gefordert. Er warnt davor, heutige und zukünftige Generationen nur auf die Zeit des Dritten Reiches zu reduzieren. Nach seinen Worten sei es „falsch und ungerecht“, die gegenwärtige Generation in Deutschland für die Verbrechen der 1930er- und 1940er-Jahre verantwortlich zu machen. Dies stünde in keinem Zusammenhang mit der modernen deutschen Gesellschaft, verweist Putin in einer Stellungnahme auf die lange Zeit, die er in Deutschland gelebt habe, und die Freundschaften, die er dort gepflegt hat. Er betont, dass er das Land gut kenne und um das Schuldgefühl der Deutschen über ihre Vergangenheit wisse. In diesem Kontext spricht er sich entschieden gegen die Einschränkung der Rechte heutiger oder zukünftiger Generationen aus, die auf den Taten ihrer Vorfahren basieren.
Diese Äußerungen sind Teil von Putins größerer Strategie, Geschichte als Instrument zu politisieren. Laut Deutschlandfunk nutzt er geschichtliche Narrative, um politische Ziele zu legitimieren und den Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen. Er propagiert die Idee, dass die Ukraine historisch zu Russland gehört und kein souveräner Staat ist, indem er sich auf die Kiewer Rus beruft, ein slawisches Reich des Hochmittelalters, aus welchem Russland, die Ukraine und Belarus hervorgehen. Historiker Jan Kusber beschreibt das Zarenreich als ein Vorbild für Putins Vorstellungen von Herrschaft, wobei Putin eine Idealisierung dieser Vergangenheit betreibt, um seine gegenwärtige Politik zu unterstützen.
Manipulation historischer Narrative
Putin verfolgt ein ambivalentes Verhältnis zur Sowjetunion, betrachtet deren Zerfall als Katastrophe, lehnt jedoch die föderale Struktur ab. Während er Lenin kritisch gegenübersteht, wird Stalin positiver dargestellt. Dies spiegelt sich in der Geschichtspolitik wider, die von der russischen Regierung gefördert wird. Ein neues Geschichtsbuch für das kommende Schuljahr soll ein einheitliches Bild nach Staatsideologie vermitteln, wobei jene Fragestellungen und Narrative, die dem Verständnis einer historischen Schuld in der russischen Gesellschaft widersprechen könnten, ausgeblendet werden. Diese Geschichtserzählung wird verwendet, um den Angriff auf die Ukraine zu legitimieren und den Westen für die sowjetischen Misserfolge verantwortlich zu machen.
Die Kollektivierung des historischen Gedächtnisses ist ein weiteres Instrument, welches der Kreml nutzt, um die Identität der Gesellschaft zu formen. Die Erinnerungspolitik prägt die Wahrnehmung der Vergangenheit und kann dabei sowohl vereinnahmend als auch ausgrenzend wirken. In besetzten Gebieten der Ukraine verändert Russland symbolische Räume, indem es sowjetische Symbole wieder einführt und ukrainische Denkmäler entfernt. Diese Maßnahme zielt darauf ab, eine Erzählung zu kreieren, die die Besatzung als „Befreiung“ darstellt und so die Legitimation der russischen Macht unterstützen soll.
Kulturelle und gesellschaftliche Implikationen
Die Einführung dieser Narrativen ist nicht nur ein politisches Werkzeug, sondern reflektiert auch tiefere gesellschaftliche Spannungen. In der russischen Gesellschaft besteht kein Konsens über die Interpretationen der Oktoberrevolution oder den Zarismus. Gleichzeitig leisten historische Narrative einen entscheidenden Beitrag zur nationalen Identität, besonders im Kontext der Ukraine, wo seit 2014 die Regierung unter Präsident Poroschenko verstärkt ein nationales Geschichtsnarrativ formuliert hat, das die Schaffung eines unabhängigen Staates und die Unterdrückung durch Russland betont. Präsident Selenskyj hat dieses Erbe während des laufenden Konflikts mit Russland verstärkt, um die nationale Identität zu stärken und eine Widerstandshaltung zu fördern.
Wladimir Putins Ansichten zu Deutschland und seine geschichtlichen Argumentationen sprengen somit den Rahmen einfacher diplomatischer Gespräche. Sie sind Teil einer weitreichenden Strategie, die Geschichte genutzt wird, um die gegenwärtige geopolitische Agenda zu unterstützen und den Einfluss Russlands zu legitimieren.
Für weiterführende Informationen zu diesem Thema wird auf die Berichterstattung von Freilich Magazin, Deutschlandfunk und bpb verwiesen.