
Die Diskussion um die Praxis des offenen Vollzugs in Nordrhein-Westfalen (NRW) gewinnt an Intensität. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Can H., der im Juni 2024 vom Kölner Landgericht zu fünfeinhalb Jahren Haft wegen Betrugs in Millionenhöhe verurteilt wurde. Can H. betrieb Corona-Testzentren und ergaunerte dabei nahezu sechs Millionen Euro durch falsche Abrechnungen. Vor einigen Wochen wurde er in den offenen Vollzug nach Euskirchen verlegt, wobei sein Verteidiger damit rechnet, dass er nach zwei Dritteln seiner Haftstrafe entlassen wird. Diese Praxis wirft nicht nur rechtliche Fragen auf, sondern regt auch gesellschaftliche Debatten an.
In NRW können etwa 32% der verurteilten Kriminellen tagsüber ihre Haftzimmer verlassen, was im Vergleich zu anderen Bundesländern bemerkenswert hoch ist. Der offene Vollzug soll den Insassen helfen, sich schrittweise an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen. Kritiker hingegen argumentieren, dass diese laxen Regelungen zu einem Anstieg des „Strafvollzugstourismus“ führen. Straftäter aus anderen Bundesländern verlegen ihren Wohnsitz nach NRW, um die Chancen auf einen offenen Vollzug zu erhöhen. Staatsanwälte aus benachbarten Bundesländern sehen in dieser Praxis eine „Gerechtigkeitslücke“, die Maßnahmen zur Ahndung von Straftaten untergräbt.
Offener Vollzug: Ein umstrittenes Konzept
Der offene Vollzug hat in NRW seit Jahrzehnten eine bedeutende Rolle und bietet die Möglichkeit einer an den Lebensverhältnissen in Freiheit orientierten Vollzugsgestaltung. Diese Form des Vollzugs fördert die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Gefangenen und soll den Übergang in die Freiheit erleichtern. In den Einrichtungen des offenen Vollzugs sind die Sicherheitsvorkehrungen vermindert oder sogar ganz absent. Allerdings dürfen die Inhaftierten nicht beliebig oft die Anstalt verlassen; jede Abwesenheit erfordert eine individuelle Genehmigung, die im Kontext der Vollzugsplanung vergeben wird. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine Belohnung, sondern um eine wichtige Behandlungsmaßnahme, die den Gefangenen eine gewisse Lebensnormalität und Kontakt zur Gesellschaft ermöglicht.
Ein besorgniserregendes Beispiel für diese Problematik ist der Fall von Mohamad B., einem verurteilten Drogenhändler, der ebenfalls frühzeitig in den offenen Vollzug verlegt wurde. Die Staatsanwaltschaft Essen kritisierte diese Entscheidung als nicht sachgerecht. Ein weiterer Fall ist der von Werner H., der nach nur einem Jahr Haft vorzeitig entlassen wurde und ebenfalls auf öffentliche Kritik stieß. Der NRW-Justizminister verteidigt jedoch die liberalere Vollzugspraxis als Teil eines Resozialisierungskonzepts.
Resozialisierung und Prävention
Im Rahmen der Resozialisierung wird in NRW ein „aktiver Strafvollzug“ angestrebt, der die Rückfallrisiken minimiert. Wichtige Elemente sind individuelle Diagnosen der Kriminalitätsursachen zu Beginn des Vollzugs sowie maßgeschneiderte Behandlungsempfehlungen. Die Gefangenen werden in Gruppen mit ähnlichem Behandlungsbedarf zusammengeführt, wobei die Justizvollzugsanstalten nicht nach einem einheitlichen Muster organisiert sind. Stattdessen gibt es eine Vielzahl an Einrichtungen mit unterschiedlichen Therapieangeboten, wie Anti-Gewalt-Trainings und spezielle Programme für Sexualstraftäter.
Aktuelle Schwerpunkte der Justiz in NRW sind die Optimierung der Eingangsdiagnostik, die Verbesserung der Zuweisung zu passenden Anstalten sowie der Ausbau von sozialtherapeutischen Maßnahmen. Erfolgreiche Therapie erfordert die Mitwirkung der Inhaftierten, sodass Einsicht und Kooperation wesentliche Voraussetzungen für eine effektive Resozialisierung darstellen. Diese Aspekte sind besonders wichtig, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Strafsystem aufrechtzuerhalten und das Sicherheitsgefühl in der Gesellschaft zu fördern.
Während einige die Notwendigkeit dieser liberaleren Ansätze betonen, um einen reibungslosen Übergang in die Gesellschaft zu ermöglichen, sehen andere darin eine Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion um die Vollzugspraktiken in NRW weiterentwickeln wird und welche Maßnahmen zur Sicherstellung einer gerechten Strafverfolgung ergriffen werden.
Für weitere Informationen über die Organisation des offenen Vollzugs in NRW können Sie die Seite Justiz NRW besuchen. Darüber hinaus bietet die Seite Justiz NRW Resozialisierung tiefere Einblicke in die Konzepte der Resozialisierung und der Gefangenenhilfe.