
In der Welt des deutschen Turnens herrscht alarmierendes Schweigen über tief verwurzelte Missstände. Janine Berger, eine ehemalige Spitzenturnerin und Olympia-Vierte von 2012, erhebt schwere Vorwürfe gegen das deutsche Turnensystem. In einem offenen Appell fordert sie, dass das Thema des körperlichen und mentalen Missbrauchs ernst genommen wird. Berger kritisiert, dass viele dieser Missstände intern bekannt sind, sie jedoch nie der nötigen Aufmerksamkeit gewidmet wurden. Auf bnn.de berichtet sie von systematischem Missbrauch, der von zahlreichen Turnerinnen angeprangert wird.
Die Vorwürfe werden nicht nur von Berger erhoben. Tabea Alt, eine andere Ex-Turnerin, und zahlreiche Kolleginnen unterstützen diese Aussagen. Sie schildern, dass sie trotz akuter Schmerzen im Training weitermachen mussten, während demütigende Verhaltensweisen zur Tagesordnung gehörten. Alt beschreibt, dass sie bereits vor drei Jahren dem Deutschen Turner-Bund von systematischem Missbrauch in Stuttgart Bericht erstattete, aber auf taube Ohren stieß. Der taz.de zufolge sind ähnliche Bedenken bereits vor vier Jahren am Bundesstützpunkt in Chemnitz geäußert worden, was den DTB dazu veranlasste, einen Kulturwandel zu versprechen. Dieser Wandel scheint jedoch bislang nicht zu materialisieren.
Die Berichterstattung und Reaktionen
Betroffene Turnerinnen fordern einen disziplinarischen Maßnahmenkatalog gegen die Täter. Ein Schritt in diese Richtung gab es bereits: Zwei Übungsleiter wurden vorläufig freigestellt. Berger hebt hervor, dass im deutschen Turnen die Gesundheit der Athletinnen oft hinter den sportlichen Zielen zurückgestellt wird. Gelehrt werde den Turnerinnen, Schmerzen zu ignorieren, selbst bei ernsthaften Verletzungen. Der Druck, bei Wettkämpfen eine bestimmte Gewichtsklasse nicht zu überschreiten, führt bei vielen Athleten zu schweren Essstörungen.
Die Dunkelziffer der Betroffenen ist hoch. Laut den Ergebnissen einer kürzlich durchgeführten Untersuchung über interpersonale Gewalt im Leistungssport haben bis zu 72% der Sportler:innen psychische Gewalt erfahren. Die In-Mind.org beleuchtet, dass diese missbräuchlichen Verhaltensweisen nicht nur auf die Trainer konzentriert sind. Auch andere Sportler:innen können Täter sein. Diese Dynamik schafft ein starkes Machtgefälle, das potenzielle Opfer oft zum Schweigen zwingt.
Ein dringender Ruf nach Veränderung
Berger und Alt setzen sich vehement für eine Reform des Turnensystems ein, das die Sicherheit und das körperliche sowie psychische Wohlbefinden der Athlet:innen in den Mittelpunkt stellt. Die überwältigende Mehrheit der Befragten empfindet den Druck im Leistungssport als enorm, was sich negativ auf ihr Wohlbefinden auswirkt. Die olympischen Ideale, die den Sport in seiner Essenz prägen sollten, scheinen oftmals hinter dem Streben nach Erfolg zurückzutreten.
Um den etablierten Missbrauchsstrukturen entgegenzuwirken, sind umfassende kulturelle Veränderungen dringend erforderlich. Initiativen wie „Safe Clubs“, die evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen im organisierten Sport in Deutschland umsetzen möchten, könnten erste Schritte in eine positive Richtung darstellen. Doch ohne klare Richtlinien und transparente Konsequenzen für missbräuchliche Praktiken wird der Weg zur gewünschten Veränderung lang und steinig bleiben.