
Prof. Dr. Aileen Oeberst, seit 2024 Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Potsdam, hat sich mit dringenden Fragen zu Fehlurteilen und falschen Erinnerungen beschäftigt. Diese Themen gewinnen an Bedeutung im Rahmen der rechtlichen Beurteilung von Fällen, wie einem kürzlich vorgefallenen Vorfall, bei dem ein Straftäter mit verminderter Schuldfähigkeit während eines genehmigten Freigangs mehrere Raubüberfälle beging, die zu zwei Todesfällen führten. Ein Richter muss nun untersuchen, ob der Chefarzt, der den Freigang genehmigte, fahrlässig handelte. Hierbei könnte die Bewertung des Falls durch Richter, die entweder die vollständigen Unterlagen oder nur eine verkürzte Version des Falls kennen, entscheidend sein. Oeberst hat herausgefunden, dass Richter, die den gesamten Fall kannten, das Verhalten des Arztes als eher strafbar einschätzten als solche, die nur eine kurze Zusammenfassung hatten. Diese Situation wirft wichtige Fragen in Bezug auf den sogenannten „Rückschaufehler“ auf, der dazu führt, dass Ergebnisse rückblickend als vorhersehbarer eingeschätzt werden.
Die Studie von Oeberst beleuchtet die Gefahren von Rückschaufehlern in urteilsprägenden Situationen. Um diesen Fehler zu minimieren, empfiehlt sie die „Consider-the-opposite-Strategie“. Diese Methode ermutigt Entscheidungsträger dazu, alternative Szenarien in Betracht zu ziehen, was potenziell zu gerechteren Urteilen führen kann. Zusätzlich schlägt Oeberst vor, forensische Psychiater einzusetzen, die nur die Informationen erhalten, die der Chefarzt damals hatte, um objektivere Einschätzungen zu ermöglichen.
Falsche Erinnerungen und deren Implikationen
Oeberst hat auch umfassende Forschungen zu falschen Erinnerungen durchgeführt. Diese Forschungen zeigen, dass etwa die Hälfte der Probanden an nicht-erlebte Ereignisse glaubte, nachdem ihnen manipulierte Erinnerungen implantiert wurden. Besonders bedeutsam ist die Erkenntnis, dass die Aufklärung über diese falschen Erinnerungen im Labor deutlich effektiver war als in der realen Welt. Oeberst kritisiert die weit verbreiteteannahme von verdrängten Kindheitstraumata, da es nachweislich keine überzeugenden Beweise dafür gibt. Tatsächlich erinnern sich Menschen häufig gut an traumatische Erlebnisse, was dem verbreiteten Glauben in therapeutischen Kreisen widerspricht.
Im Bereich der psychologischen Forschung sind falsche Erinnerungen nicht nur harmlos; sie können ernsthafte Folgen, insbesondere im forensischen Kontext, haben. Dies wird durch frühere Studien von Oeberst und Merle Wachendörfer an der FernUniversität in Hagen unterstützt, die zeigten, dass es keine verlässlichen Anhaltspunkte gibt, um wahre und falsche Erinnerungen eindeutig zu unterscheiden. Ihre Analyse ergab, dass zwei Drittel der untersuchten Studien gravierende methodische Mängel aufwiesen, was die Aussagekraft erheblich beeinträchtigt. Die beiden Forscherinnen fordern die wissenschaftliche Gemeinschaft auf, effektive Instrumente zu entwickeln, um diese Erinnerungen zuverlässig zu differenzieren.
Wissenschaftliche Verantwortung und zukünftige Forschung
Angesichts der Komplexität dieser Themen und der potenziellen Auswirkungen auf die juristische Praxis hat Oeberst eine Mitgliederrolle in einer Expertenkommission des Bundesjustizministeriums übernommen. Diese Kommission arbeitet an einem Leitfaden zur Glaubhaftigkeit von Erinnerungen. Geplant sind auch Analysen von Urteilen des Bundesgerichtshofs sowie aussagepsychologischen Gutachten, um tiefere Einsichten in die Funktionsweise von Erinnerungen und deren Einfluss auf juristische Entscheidungen zu gewinnen.
Die kritische Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und Verarbeitung von Erinnerungen ist entscheidend, insbesondere wenn man bedenkt, wie leicht bestimmte Informationen falsch interpretiert oder in Erinnerung gerufen werden können. Die Forschung von Oeberst und anderen wird somit nicht nur in akademischen Kreisen von Bedeutung sein, sondern auch weitreichende Implikationen für die Rechtsprechung und psychologische Therapie haben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Arbeiten von Aileen Oeberst und ihren Kollegen zur Klärung von Fragen rund um Fehlurteile und falsche Erinnerungen einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der menschlichen Psyche und ihrer Funktionsweisen leisten. Die Erkenntnisse aus diesen Studien stehen in der Verantwortung, sowohl die juristische als auch die psychologische Praxis zu informieren und zu verbessern.