
In der Kieler Ratsversammlung stand am Donnerstag ein brisantes Thema auf der Agenda: die steigende Gewalt gegen Obdachlose. Dies wurde vor dem Hintergrund jüngster gewaltsamer Angriffe thematisiert, die in den vergangenen Wochen Schlagzeilen gemacht hatten. Besonders pikant war, dass die Diskussion auf einen Antrag der AfD zurückging, die mit besorgniserregenden Berichten über die Situation auf sich aufmerksam machte. Der AfD-Ratsherr Fabian Voß brachte drei konkrete Beispiele für diese Gewaltausbrüche, die mit der wachsenden Wohnungslosigkeit in der Stadt in Verbindung gebracht wurden. Er äußerte den verdächtigen Verdacht, dass es sich bei den Tätern um „kürzlich Eingebürgerte“ handeln könnte, und warf zudem eine Verbindung zu Übergriffen auf Migranten auf.
Stadtrat Gerwin Stöcken konterte Voß’ Äußerungen energisch. seiner Meinung nach ging es der AfD nicht um die Belange von Obdachlosen, sondern vielmehr um eine Schüren von Hass gegenüber geflüchteten Menschen. Er verwies auf den Tod eines 42-jährigen Litauers, der am 31. Dezember in einem Kälteschutzcontainer verstarb. Dieser Fall wurde im Rahmen der Debatte als besonders tragisch hervorgehoben, insbesondere da die Polizei in diesem Zusammenhang zwei tatverdächtige Männer festgenommen hatte, gegen einen von ihnen ein Untersuchungshaftbefehl wegen Totschlags erlassen wurde.
Gesellschaftliche Dimension der Gewalt
Saskia Gränitz, eine Soziologin, die sich intensiv mit Obdachlosigkeit beschäftigt, erläutert, dass die zuletzt beobachtete zunehmende Gewalt gegen wohnungslose Menschen nicht isoliert zu betrachten ist. Ihrer Meinung nach ist diese Gewalt Ausdruck von Projektionen und gesellschaftlichen Krisen. Laut dem Bundesinnenministerium ist die Gewaltkriminalität gegen Obdachlose von 2018 bis 2023 um 36,8 % gestiegen, ein alarmierender Trend, der all dies im Kontext sozialer Bedingungen und Krisen zeigt. Im vergangenen Jahr wurden 885 Gewalttaten gegen Obdachlose registriert, wobei viele Betroffene aus Angst vor weiteren Übergriffen häufig keine Anzeigen erstatten.
In den Diskussionen über Obdachlosigkeit sind auch historische Dimensionen von Bedeutung. Die Ausgrenzung wohnungsloser Menschen hat in Deutschland eine lange Tradition und fand ihren grimmigen Höhepunkt im Nationalsozialismus, als obdachlose Menschen als „Asoziale“ klassifiziert und verfolgt wurden. Historiker schätzen, dass über zehntausend wohnungslose Menschen in Konzentrationslagern betroffen waren. Auch heute noch erfahren wohnungslose Menschen in Deutschland Stigmatisierung und Ausgrenzung – Prozesse, die häufig auf tief verwurzelten Vorurteilen basieren.
Politische und gesellschaftliche Verantwortung
Die Debatte in Kiel verdeutlicht, dass die Herausforderungen, vor denen wohnungslose Menschen stehen, nicht nur individuelle Schicksale sind, sondern auch tiefere gesellschaftliche Probleme widerspiegeln. Das Stigma, das wohnungslosen Menschen anhaftet, manifestiert sich in einer Vielzahl von Formen, von respektlosen Begegnungen mit Vermietern bis hin zu einem generellen Unverständnis für ihre Situation. Die Mehrheit der Gesellschaft ist kaum über die wahren Bedingungen und Hintergründe der Obdachlosigkeit informiert, was zu einer enormen Diskrepanz zwischen dem Selbstbild der Betroffenen und den gesellschaftlichen Zuschreibungen führt.
Die Politik ist gefordert, die Rahmenbedingungen für wohnungslose Menschen zu verbessern. Es muss nicht nur ein rechtlicher Anspruch auf Unterbringung in Notunterkünften bestehen, sondern auch ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden. Die Schaffung von mehr Wohnraum und die Regulierung von Eigentumsverhältnissen werden von Fachleuten wie Gränitz als notwendig erachtet, um den Problemen von Obdachlosen entgegenzuwirken und autoritäre Bewältigungsmuster zu entschärfen.
Die aktuellen Geschehnisse in Kiel sind nicht nur eine Mahnung, sondern auch eine Aufforderung an alle Akteure, sich gegen Diskriminierung und Ausgrenzung einzusetzen und einen sensiblen Umgang mit dem Thema Obdachlosigkeit zu fördern. Nur durch Verständnis, Mitgefühl und gezielte Maßnahmen kann eine nachhaltige Veränderung in dieser prekären sozialen Lage erreicht werden.