
Armeniens Regierung hat offiziell ein Gesetzesprojekt ins Parlament eingebracht, das den Weg für einen potenziellen Beitrittsprozess zur Europäischen Union (EU) ebnet. Premierminister Nikol Paschinjan betont jedoch, dass die Annahme des Gesetzes nicht automatisch eine EU-Mitgliedschaft bedeutet. Ein Beitritt könnte nur durch ein Referendum entschieden werden, was den Weg für eine breite öffentliche Diskussion über die EU-Integration Armeniens eröffnet, wie die Badische Neueste Nachrichten berichten.
Diese Entwicklung erfolgt in einem geopolitisch angespannten Kontext, in dem Armenien seine Beziehungen zu Russland überdenkt. Traditionell galt Russland als Schutzmacht Armeniens, insbesondere im Konflikt mit Aserbaidschan über die umstrittene Region Bergkarabach. Seit dem Amtsantritt Paschinjans haben sich jedoch die Beziehungen zwischen Yerevan und Moskau merklich abgekühlt. Trotz der Präsenz einer russischen Schutztruppe im Land gab es in den letzten Konflikten um Bergkarabach eine auffällige Passivität Russlands, während über 100.000 ethnische Armenier im vergangenen Herbst nach Aserbaidschan flüchteten, wie die Tagesschau berichtet.
Neuorientierung der Außenpolitik
Inmitten dieser Herausforderungen sieht sich Armenien von Russland verraten und sucht neue Partnerschaften, insbesondere in der EU und den USA. Der Abzug russischer Grenzschützer von Armeniens internationalem Flughafen Jerewan, der am 15. August 2024 stattfand, symbolisiert diesen Wandel. Premier Paschinjan hatte diesen Schritt bereits im Mai 2024 mit Präsident Wladimir Putin vereinbart, was die wachsenden Spannungen zwischen den beiden Ländern verdeutlicht.
Die Armenische Regierung hat sich auch von der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) distanziert, der sie bislang angehörte. Die OVKS hatte in der Vergangenheit nicht auf die Aggressionen Aserbaidschans reagiert, was in Armenien für Unmut sorgte. Im Gegensatz dazu beantragte Armenien eine EU-Beobachtermission, die inzwischen eingerichtet wurde, um die Situation an der Grenze zu überprüfen.
Wirtschaftliche und militärische Diversifikation
Armenien ist weiterhin Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), die von Russland initiiert wurde. Ein EU-Beitritt könnte laut Kremlsprecher Dmitri Peskow unvereinbar mit dieser Mitgliedschaft sein. Dennoch hat Armenien wesentliche Schritte unternommen, um seine militärische und wirtschaftliche Autonomie zu stärken. So kauft das Land Militärgüter von Frankreich, Indien und Tschechien und nahm an militärischen Übungen mit US-Truppen teil. Parallel dazu hat die EU Armenien finanzielle Unterstützung in Höhe von 10 Millionen Euro für die Streitkräfte gewährt, um die nationale Sicherheit zu verbessern.
Die EU-Armenien-Beziehungen basieren auf einem umfassenden Kooperationsabkommen, das am 1. März 2021 in Kraft trat und die Zusammenarbeit in Bereichen wie Menschenrechten und Wirtschaft fördern soll. Armenien hat sich zur Umsetzung von Reformen zur Verbesserung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, die auch in einem Bericht des Europäischen Parlaments erwähnt werden, der auf Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung hinweist und auf die Bedeutung der Menschenrechte hinweist.
Friedensprozess und zukünftige Herausforderungen
Die schwelenden Konflikte mit Aserbaidschan, die seit den 1990er Jahren Tausende von Toten und Hunderttausende von Vertriebenen gefordert haben, stellen weiterhin eine Herausforderung dar. Berichte über Menschenrechtsverletzungen in der Region und die Notwendigkeit eines internationalen Garantiemechanismus zum Schutz der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach zeigen die Dringlichkeit der Situation auf. Aserbaidschanische Truppen haben in der Vergangenheit auch in armenisches Staatsgebiet eingegriffen, was zu militärischen und diplomatischen Spannungen führte. Die EU hat die Wichtigkeit von Verhandlungen über einen Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan hervorgehoben und fordert die Normalisierung der Beziehungen, auch mit der Türkei.
Insgesamt lässt sich erkennen, dass Armenien in einer entscheidenden Phase seiner nationalen und internationalen Ausrichtung steht. Der gesetzgeberische Vorstoß zur EU-Integration könnte sowohl geopolitische als auch wirtschaftliche Implikationen nach sich ziehen und der armenischen Bevölkerung helfen, ihre Stimme auf der europäischen Bühne zu erheben. Wie sich die Entwicklungen weiter entfalten werden, bleibt abzuwarten.